18.5.2013: Beck Online-Kommentar - Eschelbach, Kommentar zu § 223 StGB - Eine profunde Analyse aus berufenem höchstrichterlichen Mund

Im Beck-Online-Kommentar zum StGB ("Beck OK") erschien kürzlich im Rahmen der Kommentierung zu § 223 StGB (Körperverletzung), Randnummer 9 f.. 
ein längerer Passus zum Thema Beschneidung Minderjähriger männlichen Geschlechts. Der Text ist eine selbständige kleine Abhandlung. Verfasser ist Herr Dr. Eschelbach, Richter im 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (Der Bundesgerichtshof - Richter : Besetzung der Strafsenate ). Die Abhandlung zeichnet sich aus durch eine sehr fundierte Auseinandersetzung mit der Beschneidung und ihrer Wirkung sowie der Bedeutung und Funktion der männlichen Vorhaut. Die vertiefte Auseinandersetzung mit Fakten und Auswirkungen der Beschneidung männlicher Kinder führt unweigerlich zu einem harten juristischen Urteil. 
Eben diese dezidierte und unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem zugrunde liegenden Sachverhalt fehlt in Abhandlungen, welche § 1631 d BGB als mit der Verfassung vereinbar erachten, und hierbei zumeist stark subjektivierend sind und/oder völlig veraltetes Informationsmaterial zugrundelegen. Beides ist etwa der Fall im Aufsatz "Das Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes" von Prof. Stephan Rixen (NJW 2013, 257 ff.). Nur so kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, das Gesetz begegne keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (Rixen a.a.O., S. 262). Doch auch ohne eine ehrliche und ernsthafte Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Tatsachen stellt sich die Frage, ob sich die Verfassungwidrigkeit von § 1631 d BGB dem objektiv urteilenden Juristen nicht geradezu aufdrängt. Hierzu bemerkt Eschelbach: 

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Das Gesetz ist offensichtlich verfassungswidrig (Art 1 Abs 1 GG, Art 3 Abs 2 GG, Art 79 Abs 3 GG). Der Verfassungsbruch aus Gründen der Staatsraison macht sich auch nicht bezahlt, weil er die Debatte nicht beenden kann. Bei näherer Betrachtung (Rn 9.1 ff; Rn 35.1 ff) wird evident, dass alle zugrundeliegenden Tatsachenannahmen falsch sind.


Erstmals wird von unbefangener Seite zudem Kritik am übereilten Gesetzgebungsverfahren, das zum 1631 BGB geführt hat, geübt. Man kann kritisieren, dass beide Seite vorzugsweise ihre Studien benennen, die ihrer Argumentation dienstbar sind, auf einem Feld, das jedoch, seitens der Beschneidungsbefürworter, in puncto ausreichender Stichprobengröße, dünn bestellt ist. Die Beschneidungsgegner sind hier leicht im Vorteil, insofern als Sie gegen eine Praxis antreten und mehr Anstrengungen unternommen haben Studien durchzuführen, als die Befürworterseite, die sich auf den Lorbeeren der "Tradition", sei sie eine religiöse oder eine gesellschaftliche, ausruht.
Dr. Eschelbach stellt in diesem Zusammenhang jedoch klar, dass das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung für Dritte, also auch für den Gesetzgeber, indisponibel seien. 

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Für gläubige Juden und Muslime, aber auch für koptische Christen, steht die Pflicht zur Beschneidung nicht zur Disposition (BT-Drs 17/11295, 7), während das Grundgesetz das Recht auf körperliche Unver sehrtheit nur in Grenzen zur Disposition des Inhabers stellt; das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und ungestörte kindliche Sexual- und Gesamtentwicklung zählt zum Unverfügbaren (Art 1 Abs 1 GG, Art 79 Abs 3 GG). Politik und Religion dürfen darüber nicht verfügen.

Der von Prof. Dr. Reinhard Merkel diagnostizierte rechtspolitische Notstand wird ebenfalls gewürdigt. Scharf kritisiert wird dabei einerseits sie apriorische Festlegung des gewünschten Ergebnisses, und andererseits das Fehlen jeder Bereitschaft, gewisse Evidenzen anzuerkennen und angemessen zur Geltung zu bringen. Diese wären freilich der Intention der Politik allzusehr zuwidergelaufen. Es folgt dann bei Eschelbach auch die Erinnerung an die Schutzfunktion und das Wächteramt des Staates.
Die unauflösbare Kollision zwischen allgemeinen Menschenrechten, die im Grundgesetz und in der deutschen Rechtsordnung ihren Ausdruck gefunden haben, einerseits und Glaubenstraditionen, die chirurgische Eingriffe in den Genitalbereich von Minderjährigen vornehmen andererseits, die auch für juristische Laien augenfällig ist, kann und darf nicht unterschiedlich gewertet werden je nachdem, ob es sich um eine afrikanische Naturreligion handelt, zu der der durchschnittliche Westeuropäer einen eher geringen Bezug hat, oder um die Religion oder Tradition einer Gruppierung, die uns emotional oder aus anderen Gründen deutlich näher steht. Legislative und Judikative, die an die verfassungsmäßigen Grundsätze gebunden sind, haben losgelöst von diesem Kontext mit Blick auf die verfassungsgemäße Ordnung zu urteilen und zu handeln. Man muss deshalb Dr. Eschelbach beipflichten, wenn er, wie auch Prof. Isensee, die Schutzpflicht des Staates wie folgt in den Vordergrund stellt:

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Die Politik hat nun aus Angst vor der Verletzung religiöser Gefühle ein Ergebnis festgelegt, bevor die Tatsachen geklärt sind und das Recht neutral befragt wurde. Der Staat muss nicht die Religionsgemeinschaften oder die Eltern, sondern zuerst die Kinder schützen, die sich nicht wehren können (BVerfGE 24, 119, 144); seine Schutzpflicht folgt aus Art 1 Abs 1 S 2 GG, ferner aus Art 2 Abs 2 S 1 GG (Weilert RW 2012, 292, 319 zur Knochenmarkspende) und schließlich aus dem Wächteramt nach Art 6 Abs 2 GG (BVerfGE 102, 370, 393; Zähle AöR 134 [2009], 434, 441).


Dem ist zuzustimmen. 
Völlig zurückzuweisen ist daher auch die Behauptung, dass das neue Gesetz irgend eine Unsicherheit aus der Welt geräumt habe, welches nach Erlaß des Kölner Urteils entstanden sei, weil etwa ein religiöses Ritual in Frage gestellt worden sei, das gleich für drei Weltreligionen (Judentum, Islam, Teile des Christentums) von großer und, im Falle des Judentums, angeblich von konstitutiver Bedeutung seien (so Rixen a.a.O.). Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Mit dem Inkrafttreten des § 1631 Abs.2 BGB im Jahre 2000 war eindeutig geregelt, dass Körperverletzung von Kindern als Maßnahme des Erziehungsrechtes gesetzlich untersagt ist. Die Religionsfreiheit befugt gem. Art. 140 GG. i.V.m. Art. 136 WRV nicht dazu, in die körperliche Unversehrtheit anderer Menschen einzugreifen. Und ein medizinisch nicht indizierter Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines anderen Menschen stellte und stellt immer eine Körperverletzung dar. Dieser einfache und leicht nachvollziehbare Sachverhalt wurde erst dadurch verkompliziert, dass infolge der Debatte das richtige Urteil des LG Köln angegriffen wurde. Daher ist Dr. Eschelbach vollumfänglich beizupflichten, wenn er ausführt:

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Die Beschneidung von Säuglingen oder Knaben hat eine Diskussion ausgelöst, die durch fehlenden Respekt vor einer zutreffenden Gerichtsentscheidung (LG Köln[....]) und falsche Tatsachenannahmen geprägt ist. Dabei ist die Rechtsprechung der dritten Gewalt überantwortet (Art 92 GG), was die erste ignoriert, wenn sie meint, entgegen der Entscheidung sei „nach zutreffender Rechtsauffassung“ die Beschneidung schon nach bisherigem Recht erlaubt (BT-Drs 17/11295, 10) und nun durch Neuregelung (§ 1631d BGB) gesetzlich zu gestatten.


Deutlich wird auch, weshalb die Verharmlosung der Beschneidung geradezu erforderlich ist, um dem Urteil der Rechtswidrigkeit zu entgehen:

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Schon jeder objektive Zweifel an der Geringfügigkeit würde zudem die Wirksamkeit der Einwilligung nach allgemeinen Maßstäben in den Eingriff, von § 1631d BGB abgesehen, ausschließen (vgl BGHSt 16, 309, 313).


Besonders interessant ist die Frage, inwieweit der Eingriff in die Genitalien eines Minderjährigen dessen eigene Rechte verletzt. Die Richter des LG Köln wie auch viele andere Juristen prüfen hierbei hauptsächlich das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes. Eschelbach geht jedoch noch einen Schritt weiter und prüft einen Eingriff in die Menschenwürde, da die Intimsphäre betroffen ist. Hierzu führt er aus: 

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Die Religionsgemeinschaften fordern hingegen von dem Säugling oder Kind im Rahmen einer alleine oder jedenfalls zuvörderst für die Erwachsenen veranstalteten rituellen Veranstaltung ein irreversibles Opfer an Körpersubstanz (Borkenhagen/Brähler/Franz Intimmodifikationen 2010, 183, 195), das von dem noch nicht einwilligungsfähigen Säugling oder Kind als endgültige körperliche Stempelung erbracht werden soll und dieses zum Objekt der Handlung macht (Czerner ZKJ 2012, 374, 380, 381; Staudin- ger/Coester BGB § 1666 Rn 126).


Ein solches Urteil ist sehr weitgehend und relativ neu in der juristischen Debatte. Maßgebend dürfte jedoch das Argument sein, dass es sich um einen Eingriff in den Intimbereich des Kindes handelt. Hierüber zu befinden, stehe niemandem zu:

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Der medizinisch nicht indizierte operative Eingriff an dieser Stelle betrifft die Intimsphäre und damit Unverfügbares, was auch den Eltern, den Religionsgesellschaften und nicht einmal dem Gesetzgeber zur Disposition steht.


Das Argument ist schlüssig, und zwar insbesondere dann, wenn man sich mit den seelischen und sexuellen Folgen auseinandersetzt, die ein solcher Eingriff mit sich bringen kann und die hier im Forum eingehend diskutiert werden. In der Konsequenz wird deutlich, wie degradierend es für viele Opfer der Beschneidung ist, wenn von Dritten, auch vom Gesetzgeber, darüber entschieden wird, was von ihrem Genitalbereich ohne medizinische Indikation entfernt werden dürfe oder solle. Zu Recht kommt Eschelbach daher zu dem Schluss:

 Zitat

die Gemeinschaft hat kein Recht ein körperliches Sonderopfer von Säuglingen oder Kindern zu postulieren, das ihre Intimsphäre verletzt.


Leider hat sich die Beschneidungsdebatte allzusehr an der religiösen Praxis festgebissen. Dabei wurde, im Eifer des Gefechts, vergessen, dass die Mehrheit der Beschneidungen nicht religiösen Gründen folgt. Der Ärzteschaft wird hier in Erinnerung gerufen, dass Ihre Dienstleistung keine im üblichen Sinne ist. Sie hat sich auch ethischen Dimensionen zu stellen. Und Beschneidung ist kein Spaziergang, sondern die ultima ratio.

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Ein Eingriff ist nur dann medizinisch geboten, wenn andere Behandlungsmethoden keinen Erfolg versprechen (BGHSt 19, 201, 205). Nur in besonderen Fällen einer Phimose handelt es sich tatsächlich um einen pathologischen Befund (Stehr/Putzke/Dietz DÄBl 2008, A1778 ff). Anders lautende Bemer- kungen im Rahmen von Patientenaufklärungen im Normalfall wären falsch und müssten zur Unwirksamkeit einer Operationseinwilligung führen.


In der Folge dürfte auch für Beschneidungen außerhalb ritueller Kontexte die Frage der Körperverletzung neu zu stellen sein – allerdings stellt sich auch hier letztlich das Problem, dass § 1631 d BGB rein faktisch auch nicht medizinisch indizierte Beschneidungen aufgrund von Scheindiagnosen oder trotz alternativ vorhandener konservativer Behandlungsmethoden, ja sogar aus krankhaftem Hygienewahn oder zur Eindämmung von Masturbation legitimiert. Denn die eigentliche Motivation der Eltern ist nicht nachprüfbar. 
Aufgrund der Schwere des Eingriffs und seiner Folgen ist es nicht nachvollziehbar, dass er ohne Weiteres auch von einem Nichtarzt vorgenommen werden darf, von dem überdies nicht zu erwarten ist, dass er die Eltern über den Vorgang und seine Folgen zureichend aufklärt. Die Legitimierung von Nichtärzten kann jedenfalls nicht dadurch begründet werden, dass es sich nur um einen Bagatelleingriff handeln würde. Daher stellt Eschelbach zurecht klar:

 Zitat

Die Beschneidung ist ein „chirurgischer Eingriff“ (BR-Drs 597/12, 3), der als solcher prinzipiell einem Arzt vorbehalten ist und der auch von den Einwilligungsberechtigten nicht einem Nichtarzt gestattet werden darf (allgemein zur Wirksamkeit der Einwilligung in Bagatellmaßnahmen durch Nichtärzte BGHSt 16, 309, 311 ff).


Immer wieder fällt in diesem Zusammenhang auf, dass die Befürworter der Beschneidung sie mit der These, sie sei in ihren Folgen harmlos zu rechtfertigen versuchen. Beweisen lässt sich dies indes nicht, im Gegenteil. Der bloße Glaube an eine angebliche Harmlosigkeit kann jedoch nicht geeignet sein für eine Verletzung von Grundrechten eines Kindes, namentlich verletzenden Handlungen an seinen Genitalien. Hier apelliert Eschelbach an die Befürworter, sie mögen ihre Behauptungen substantiieren:

 Zitat

Nicht Beschneidungsgegner müssen nach dessen Maßstab den Beweis der Gefährlichkeit führen, sondern Beschneidungsbefürworter sind dazu aufgerufen, ihre These der generellen Harmlosigkeit zu belegen, was nicht gelingen kann.


Sämtliche Behauptungen angeblicher medizinischer Vorteile von Beschneidung erwiesen sich bislang als fehlerhaft; wo sie überhaupt als theoretisch möglich erschienen, sind alternative, deutlich harmlosere Therapien oder wirksamere Schutzmaßnahmen adäquat. Im Einzelnen sei auf den Artikel "Cultural Bias in the AAP's 2012 Technical Report and Policy Statement on Male Circumcision" (Pediatrics 2013 131 (4) verwiesen. Beschneidung ist aus medizinischer Sicht vollkommen nutzlos, was durch Eschelbach deutlich herausgestrichen wird:

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Den Behauptungen medizinischer Vorteile der routinemäßigen Beschneidung ohne Indikation fehlt es jedenfalls derzeit an wissenschaftlicher Unterstützung.


In einigen wenigen orthodoxen Gemeinden kommt hinzu, dass der Umgang mit dem Säugling aus medizinischer Sicht so unhaltbar ist, dass sich die Frage des Kindeswohls und der Körperverletzung besonders eindringlich stellt. Eschelbach beschreibt diese Vorgänge:

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Bei der orthodoxen jüdischen Form der rituellen Beschneidung ist die peri’ah inbegriffen, also das Abschaben der inneren Vorhaut von der Eichel, was nach der Tradition mit den Fingernägeln des Mohels durchgeführt werden soll, und die metiztzah b’peh, bei der der Mohel den blutenden Penis in den Mund nimmt und damit das Blut absaugt. Das ist mit der ärztlichen Maßnahme nicht zu vergleichen.


Von einem rituellen Beschneider ist wohl kaum eine adäquate Aufklärung zu erwarten; nicht einmal alle Ärzte haben sich mit der Thematik ausreichend befasst oder sind auf dem neuesten Stand. Den Eltern gegenüber ist es unverantwortlich, sie über die eigentlichen Folgen und Risiken der Beschneidung im Unklaren zu lassen. Juristisch gesehen stellt sich hier die Frage, ob die Einwilligung überhaupt wirksam war, denn wirksam ist eben nur die informierte Einwilligung. Ein interessanter Bereich, da die Unwirksamkeit der Einwilligung auch bei BESTEHEN des § 1631 d BGB zur Strafbarkeit führen könnte. Auch diese Thematik problematisiert Eschelberg:

 Zitat

Wird den Eltern hingegen der Wahrheit zuwider mitgeteilt, der Eingriff sei praktisch schmerzlos und erleidet der Säugling oder das Kind doch erhebliche Schmerzen, so ist die stellvertretende elterliche Einwilligung in den Eingriff auch deshalb nicht wirksam (vgl RGSt 61, 393, 396).


Die dezidierte Auseinandersetzung mit der Materie wirft, wie so oft, die Frage auf, weshalb sich der Gesetzgeber nicht einfach auf die Forderung der Kritiker einließ und die Frage der Beschneidung an einem runden Tisch unter Beteiligung aller betroffenen Gruppierungen und Experten erörterte. Eschelbach geht hier hart mit dem Gesetzgeber ins Gericht:

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Der Gesetzgeber hat sich aufgrund eines rechtspolitischen Notstands vorschnell auf ein Ergebnis festgelegt und ein eilig darauf zugeschnittenes Gesetz zur Schaffung einer Eingriffserlaubnis in § 1631d BGB erlassen (abl Walter JZ 2012, 1110 ff).


In geradezu erfrischender Weise stellt Eschelbach klar, dass eine Wertung von religiösen Ansichten, sowohl im Positiven als auch im Negativen, als Argumentationsbasis mangelhaft ist:

 Zitat

Das deutsche staatliche Recht hat auch dabei nicht über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer religiösen Überzeugung zu befinden (Schwarz JZ 2008, 1125, 1127).


In diesem Forum haben wir sehr früh damit begonnen, die Diskussion aus der Wertung religiöser Ansichten herauszunehmen. Eschelbach stellt klar, dass dies auch für die staatlichen Gewalten zu gelten habe:

 Zitat

Der Staat bewertet nicht den Glauben, sondern nur das Verhalten und zwar nach weltlichen Maßstäben, auch wenn das Verhalten religiös motiviert ist (BVerfGE 102, 370, 394; BVerfGE 105, 279, 294).


Weshalb, gemessen an objektiven, juristischen Kriterien außerhalb der einzelnen religiösen oder sonstigen Überzeugungen, dem Kind auferlegt werden solle, einen Eingriff in seinen Genitalbereich zu dulden, erschließt sich Eschelbach nicht:

 Zitat

Eine Sozialpflichtigkeit des Kindes als Grundrechtsträger besteht aber nicht, soweit es um ein Opfer an Körpersubstanz geht (vgl in anderem Zusammenhang Weilert RW 2012, 292, 320) – noch dazu im Intimbereich mit der Folge des Eingriffs in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung vor Abschluss der Geschlechtsreife.


Auch auf einen weiteren, sehr wesentlichen Punkt geht Eschelbach ein: die Vergleichbarkeit mit der weiblichen Genitalverstümmelung. Hierzu führt er aus:

 Zitat

Im Kern dieselben Gründe, die gegen die Zulassung der Knabenbeschneidung nicht durchgreifen sollen, werden für die Strafschärfung bei der weiblichen Genitalverstümmelung ins Feld geführt. Bei der weiblichen Genitalverstümmelung wird das Recht des Staates, Kinder vor den Handlungen der Eltern zu schützen, wenn in ihr Recht aus Art 2 Abs 2 S 1 GG eingegriffen wird, anerkannt (Rosenke Die rechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der weiblichen Genitalverstümmelung 2000, 130; Wüstenberg RuP 2007, 225, 226), bei der Knabenbeschneidung dagegen nicht. Die millionenfache Zahl (BT-Drs 17/11295, 13; Jositsch/Mikolásek AJP 2011, 1281, 1182) und traditionelle Praktizierung der Genitalverstümmelungen an Mädchen und Frauen soll bei de- ren Genitalverstümmelung nicht (Hahn ZRP 2010, 37, 3, bei der Knabenbeschneidung aber sehr wohl legitimierend wirken. Ihre Forderung auch durch ein religiöses Postulat wird hier ignoriert, während sie dort akzeptiert werden soll. Opferschutz soll hier auch ein Eindringen der Justiz in Familienverbände fremder Ethnien und die Zurückdrängung von alten Traditionen gebieten (Hahn ZRP 2010, 37, 40), dort aber keine Rolle spielen. Nur eine dieser Positionen kann richtig sein (vgl NK/Paeffgen StGB § 223 Rn 103c)


Eschelbach führt hierbei nicht einmal die gängigen Differenzierungen auf, welche die Vergleichbarkeit mit weiblicher Genitalverstümmelung vor Augen führen: so etwa die harmlosere Variante der Inzision oder die vergleichbare Variante der Entfernung der Klitorisvorhaut, welche einmal weniger schwerwiegend (aber dennoch verwerflich) und einmal sachlich vergleichbar ist. Vielmehr argumentiert er viel stärker an der zugrunde liegenden Frage orientiert: weshalb werden völlig unterschiedliche Argumente und Wertungen vom Gesetzgeber ins Feld geführt je nachdem, welches Geschlecht das Opfer eines Genitaleingriffs hat? Weshalb widerspricht sich die Herangehensweise fundamental?  


Auch die historische Belastung des Verhältnisses Deutschlands zum Judentum ist nicht ausreichend geeignet, die Legitimation der Beschneidung von Knaben zu begründen. Dies ist zwar fraglos ein Punkt, der viele Menschen in Deutschland nicht unberührt lässt. Gleichwohl entbehrt die Aussage von Bundeskanzlerin Merkel, Deutschland mache sich zur Komikernation, wenn Beschneidung von Jungen nicht erlaubt sei, ihrer sachlichen Grundlage. Denn die Frage nach genitaler Autonomie ist eine weltweite Frage, die vor allem in den USA seit 30 Jahren gestellt wird. Mina Ahadi zufolge ergab nach Erlass des Urteils eine Umfrage von BBC Persia, dass 70 % des iranischen Fernsehpublikums die Beschneidung ablehne. Auch in Israel formiert sich langsam eine Gegnerschaft. Es handelt sich um eine weltweit stattfindende Debatte, was Eschelbach kurz anklingen lässt: 

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Soweit angemerkt wird, ausgerechnet das deutsche Recht sei nicht dazu berufen, jüdische Glaubensvorstellungen zu korrigieren, wird weiter übersehen, dass die Diskussion längst international geführt wird und Knabenbeschneidungen nicht nur durch Juden, sondern auch durch Moslems und koptische Christen betrifft, aber auch das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung tangiert, zu dem international eine eindeutig ablehnende Position der Rechtsordnungen besteht.


Mit Eschelbach ist demnach wohl kaum anzunehmen, dass rechtliche Klarheit herrscht, soweit nicht eine Legalisierung der Jungenbeschneidung revidiert wird. Zwar stoßen hier jahrtausende alte Traditionen und eine Kultur, die im Judentum eine fraglos zentrale Rolle spielt, aufeinander. Andererseits ist das Legalisierungsgesetz ein Fremdkörper im Rechtssystem, der dort nicht für Friede sorgt und unabsehbare Folgen mit sich bringen könnte. Daher ist Eschelbach zuzustimmen, wenn er ausführt:

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Ohne medizinischen Anlass sollen Beschneidungen daher generell nicht durchgeführt werden, schon gar nicht ohne Betäubung an Säuglingen oder Kindern. Dies und nichts anderes folgt mit der nötigen Rechtssicherheit aus der vorliegenden Vorschrift als Verhaltensnorm und aus Art 2 Abs 2 S 1 GG sowie aus dem ethischen Gebot für Ärzte, niemandem an der Gesundheit zu schaden. Jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland muss demnach im Rahmen der geltenden Rechtsordnung geschützt werden. Es hängt aber nicht von der Anwendung der deutschen Gesetze ab (Britz ZRP 2012, 252, 253), soweit diese ihrerseits verfassungskonform sind.


Insgesamt ein sehr lesenswerter Artikel, der sich vor allen Dingen durch seine fundierte Auseinandersetzung mit der Tragweite des Eingriffs und der Unhaltbarkeit angeblicher medizinischer Vorteile auszeichnet, die in dieser Intensität selten sind. In der Folge sind die juristischen Bewertungen vergleichsweise hart und tiefgreifender als diejenigen anderer juristischer Auseinandersetzungen. Es wird deutlich, wie sehr die Befassung mit der zugrunde liegenden Faktenlage den Ausschlag gibt, Umso mehr erstaunt es, wenn einzelne Juristen, etwa Prof. Rixen, Prof. Hochhuth (Freiburg) oder Prof. Dr. iur. Michael Germann, eine wirklich dezidierte Befassung mit den zugrunde liegenden Tatsachen vermissen lassen.