Werner Erndl
Sehr verehrter Herr Bundespräsident,
in diesen Tagen wird diskutiert, ob die rituelle Beschneidung der Vorhaut von Jungen rechtmäßig ist oder nicht. Das Kölner Landgericht hat in seinem Urteil vom Mai 2012 zugunsten der Rechte der Kinder entschieden. Aufgrund der heftigen Proteste der betroffenen Religionsgruppen wird jetzt von Seiten der Politik fast übereinstimmend ein Gesetz gefordert, das die rituelle Beschneidung von Jungen wieder definitiv zulassen soll.
Ich habe große Bedenken, dass so ein Gesetz bei einer verfassungsrechtlichen Prüfung Bestand hätte.
Artikel 1 unseres Grundgesetzes sagt aus: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
–Die Beschneidung von Kindern wird jedoch von vielen Betroffenen als Verletzung ihrer Menschenwürde empfunden.
Auch Artikel 2 des Grundgesetzes ist betroffen: (1) "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."
–Durch die Ansprüche der Religionsgemeinschaften und die Wünsche der Eltern wird dieses Recht der Kinder jedoch verletzt, da hier massiv in dessen Intimbereich eingegriffen wird und es keine Möglichkeit der Gegenwehr hat.
GG Artikel 2 (2): "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden."
– Dieses ist wohl der Artikel, der am meisten verletzt wird. Die Beschneidung ist definitiv eine Körperverletzung, die aufgrund ihrer fehlenden medizinischen Indikation von einem Arzt auch nicht durchgeführt werden darf.
GG Artikel 3 (2) "Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."
– Ein Gesetz, das die Beschneidung von Jungen erlaubt und gleichzeitig die Beschneidung von Mädchen verbietet, verstößt eindeutig gegen diesen Artikel.
GG Art. 3 (3) "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. "
– Aus religiösen Gründen beschnittene Kinder werden aufgrund ihrer Religion benachteiligt, da Ihre Rechte (s.o.) mehrfach missachtet werden.
GG At. 4 (1) "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."
– Durch die Beschneidung von Kindern wird die Religionsfreiheit der Kinder missachtet. Das Kind hat nicht die Wahl und das Recht zu entscheiden, ob es den Schritt hin zu dieser Religion wirklich tun will.
Die Weimarer Reichsverfassung ist in Teilen in das Deutsche Grundgesetz übernommen worden.
Dort heißt es unter Artikel 136 WRV (4):
"Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden."
– Die Zwangsbeschneidung von Kindern ist ein klarer Verstoß gegen dieses Grundrecht.
In Artikel 137 WRV (3) heißt es:
"Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes."
– Hier ist von dem "für alle geltenden Gesetz" die Rede. Eine Ausnahmeregelung ist in diesem Artikel explizit nicht vorgesehen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat 1990 die UN-Kinderrechtskonventionen ratifiziert.
Darin heißt es in Artikel 24 (3):
"Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen."
– Ein Gesetz zur Legalisierung der Beschneidung würde Bemühungen, diese Kinderrechtskonventionen umzusetzen, zunichtemachen.
Die Vorhaut ist kein wertloses, unnützes und unreines Stück Haut. Sie besitzt im Gegenteil dazu einen hohen sensitiven Wert für das Lustempfinden eines Mannes. Es kann niemals richtig sein, dass eine Religionsgemeinschaft einem Kind das Recht nimmt, über diesen Teil seines Körpers zu entscheiden.
Es gibt zahlreiche Berichte von (Kindern und) erwachsenen Männern, die aufgrund ihrer Beschneidung körperliche Beeinträchtigungen, Schmerzen, Sensibilitätsstörungen und psychische Probleme davon getragen haben. Warum werden diese Tatsachen wissentlich ignoriert? Ein Gesetz, das die Beschneidung von Kindern erlaubt, würde das Verursachen körperlicher und seelischer Schmerzen von Kindern und Erwachsenen erlauben und fördern.
Es entspricht nicht den Tatsachen, dass die Beschneidung für Moslems nur positiv gesehen wird.
In der Initiative ExMuslime melden sich Menschen zu Wort, die aus verschiedenen Gründen dem Islam den Rücken gekehrt haben. Sobald diese Menschen dem starken sozialen und religiösen Druck entflohen sind, setzen sie sich aktiv gegen Beschneidungen zur Wehr.
http://www.exmuslime..
Warum wird in der aktuellen Diskussion solchen Stimmen kein Gehör geschenkt? Warum wird einer jahrtausendealten Tradition mehr Recht eingeräumt als dem Recht eines Menschen, selbst zu bestimmen, was mit seinem Körper geschehen soll, auch auf die Gefahr hin schwerer körperlicher und seelischer Schmerzen?
Es entspricht auch nicht den Tatsachen, dass die Beschneidung für Juden generell eine religiöse Verpflichtung darstellt.
Es gibt durchaus liberale und progressive Bewegungen innerhalb des jüdischen Glaubens, die Beschneidungen strikt ablehnen. Diese sind z.B. unter www.jewsagainstcircumcision.com organisiert.
Warum wird nicht der Dialog gesucht mit diesen Gruppen? Warum wird einer Maximalforderung radikaler jüdischer Gruppen nachgegeben, statt den "Einstieg in den Ausstieg der Beschneidung" zu schaffen?
Deutschland könnte hier Vorreiter sein!
Noch einige Beispiele, dass hier mit sehr unterschiedlichen Maßstäben gemessen werden soll:
Sehr verehrter Herr Bundespräsident,
bitte lassen Sie nicht zu, dass weiterhin die Rechte von Kindern derart mit Füßen getreten werden.
Mit vorzüglicher Hochachtung