Die Schein-Diagnose Phimose

von Jennifer Coais © 2010

Ich schreibe diesen Artikel, weil dieses Thema wahrscheinlich die am weitesteten verbreitete Falschvorstellung ist, der ich begegne.

Es scheint, als ob jeder ein Kind oder einen Mann kennt, der aufgrund einer engen Vorhaut, auch bekannt als Phimose, beschnitten werden "musste". Wenn Leute diese Geschichte hören, zweifeln die meisten die Richtigkeit der Diagnose oder die Behandlung nicht an , sondern akzeptieren die Beschneidung einfach als etwas, "was getan werden musste". Kann es wirklich möglich sein, dass derart viele Männer mit solch einem Fehler behaftet sind oder haben wir es in Wirklichkeit nur mit einer Epidemie von Fehldiagnosen durch weitgehend Vorhaut-unwissende Mediziner zu tun? 

In diesem Artikel möchte ich einen Überblick über die Entwicklung des intakten Jungen geben und erklären, warum die Diagnosestellung der Phimose bei Kindern und Teenagern vollkommen unangebracht ist. Darüber hinaus werde ich erklären, was eine echte Phimose ist und wie deren sachgerechte Behandlung aussieht, und warum unsere Ärzte so verwirrt sind.

Entwicklung des Präputiums (Vorhaut bei Männern, Klitorisvorhaut bei Frauen):

Im Säuglings-und Kleinkindalter ist die Vorhaut fest mit der Glans (Eichel) verklebt. Das Gewebe der Vorhaut selbst ist in diesem Alter runzelig und dicht, und besteht aus einem Wirbel aus Muskelfasern. Die Vorhautöffnung fungiert deshalb wie ein Schließmuskel, der sich nur öffnet, um das Wasserlassen zu ermöglichen.
[Die Vorhaut weitet sich während dem Wasserlassen: Die Vorhautöffnung kann mit einem Einweg-Ventil verglichen werden, das auf Druck von Innen reagiert. Beim Wasserlassen, drückt der Urin gegen die Vorhautöffnung, sodass sich diese öffnet, und der Urin abfließen kann. In der übrigen Zeit ist die Vorhautöffnung fest verschlossen. Deshalb ist es auch egal wie "eng" die Vorhautöffnung eines Jungen aussehen mag, oder ob man die Eichel erkennen kann oder nicht, solange der Junge ungehindert pinkeln kann. Manche Ärzte führen "Nicht-Sichtbarkeit der Eichelspitze" oder eine"Stecknadelloch-große Vorhautöffnung" als Grund für eine Behandlung manchmal gar einer Beschneidung an, dabei ist eine nicht-sichtbare Eichelspitze und eine stecknadelloch groß Vorhautöffnung bei Jungen im Säuglings- und Kleinkindalter der Normalbefund. Anm. d. Red.]

Die Vorhaut erfüllt sehr wichtige Funktionen:

  • Sie schützt den sich entwickelnden Penis vor Fäkalien, Bakterien und anderen schädlichen Krankheitserregern. Dies ist besonders in der Windelzeit wichtig, wenn das Baby ständig mit seinen eigenen Fäkalien in Berührung ist (E.coli-Bakterien und andere schädliche Bakterien/Viren).
  • Sie schützt die sich entwickelnde Eichel und verhindert, dass diese desensibilisiert und keratinisiert (verhornt).

Während ein Kind wächst, löst sich die Vorhaut von der Eichel. Dieser Prozess kann bei einigen Jungen sehr viele Jahre dauern bei anderen Jungen, dagegen, scheint alles ganz schnell zu gehen. Während oder nach dem Ablösungsprozess können sich abgestorbene Hautzellen abschilfern (abfallen) und als Smegma ansammeln. (Man muss beachten, dass Frauen und Mädchen auch Smegma produzieren). Die Abschilferung abgestorbener Hautzellen unterstützt die Ablösung, da sie dabei hilft die Vorhaut von der Eichel zu trennen. Es besteht keine Notwendigkeit das Smegma unter der Vorhaut des Kindes zu entfernen. Es wird allmählich ganz von allein aus der engen Vorhautöffnung nach draußen wandern. Wenn sich die Vorhaut einmal vollständig von der Eichel gelöst hat, bedeutet das noch nicht, dass sich die Vorhaut auch zurückziehen lässt.

Die Zurückziehbarkeit der Vorhaut ist eine eigenständige Funktion, die speziell für den Geschlechtsverkehr und die Masturbation vorgesehen ist, [und nicht als Grundvoraussetzung für eine optimale Genitalhyygiene!] Das Zurückziehen der Vorhaut ermöglicht es der Vorhaut reibungsfrei über die Eichel zu gleiten. Dieser Gleitmechanismus stimuliert sowohl die Nervenenden in der Vorhaut als auch die in der Eichel. Damit das Zurückziehen der Vorhaut möglich werden kann, muss die Vorhaut sich von der Eichel gelöst UND die Vorhautöffnung sich geweitet haben, so dass sie über die Eichel gleiten kann.

Wie weitet sich die Vorhautöffnung?

Die gesamte Kindheit und Adoleszenz (=circa 13. bis 19. Lebensjahr), werden vom Körper Hormone ausgeschüttet. Während der Hormonspiegel steigt, wird das an Fasern dichte Gewebe der Vorhaut durch elastischeres Gewebe ersetzt. Ein Junge wird, während er heranwächst, beginnen seine Genitalien zu erkunden und im Laufe der Zeit wird das elastische Gewebe dafür sorgen, dass sich die Vorhautöffnung weitet. Dies kann in jedem Alter passieren, ist aber bei kleinen Jungen selten. Tatsächlich haben im Alter von 10 Jahren nur 50% der Jungen eine zurückziehbare Vorhaut. Die restlichen 50% bekommen gewöhnlich irgendwann zwischen dem 10. Lebensjahr und dem Abschluss der Pubertät eine zurückziehbare Vorhaut. 

Also warum die ganze Aufregung um das Zurückziehen der Vorhaut? Nun viele Eltern haben Angst, dass ein Junge, wenn er seine Vorhaut nicht zurückziehen kann, Infektionen bekommt. Diese Angst rührt wahrscheinlich hauptsächlich von den Falschinformationen her, die sie von Ärzten erhalten, und von ihren eigenen Ängsten vor mangelnder Hygiene. Eltern müssen wissen, dass absolut keine Notwendigkeit besteht, unter der Vorhaut des Jungen zu reinigen. Wie oben erwähnt, handelt sich bei dem Smegma, das ein Junge produziert, nur um abgestoßene, tote Hautzellen. Es ist in keinster Weise schädlich und enthält auch keine Bakterien. Zu versuchen unter der Vorhaut eines präpuberteren Jungen zu waschen ist ungefähr so, als würde man versuchen die Vagina eines Mädchens auszuwaschen. Es ist vollkommen unnötig und in der Tat schädlich. Das vorzeitige Zurückziehen der Vorhaut führt Krankheitserreger ein, stört die natürliche Flora der Haut, führt zur Bildung von Narbengewebe, schädigt die empfindlichen Strukturen der miteinander verklebten Vorhaut und Eichel und kann zu Langzeitkomplikationen führen.

Zweitens müssen Eltern wissen, dass die Zurückziehbarkeit der Vorhaut in der Kindheit keine notwendige Funktion darstellt. Die Zurückziehbarkeit der Vorhaut ist speziell für sexuelle Zwecke vorgesehen.

Die einzige Funktion, die der Penis des Jungen im Kindesalter erfüllen muss, ist das Wasserlassen. In anderen Worten, wenn ein Junge pinkeln kann, dann macht sein Penis genau das, was er machen soll.

Die Schein-Diagnose der Phimose:

Wenn ein Arzt einem Jungen eine Phimose diagnostiziert, rührt das daher, das er/sie die normale Entwicklung der Vorhaut nicht versteht. Erstens muss der Arzt um diesen Zustand diagnostizieren zu können entweder versucht haben die Vorhaut zurückziehen oder dem Jungen aufgefordert haben seine Vorhaut selbst zurückzuziehen. Das geht aus den oben beschriebenen Gründen oft gar nicht. Zweitens gibt es keine Frist, bis zu der ein Junge eine zurückziehbare Vorhaut haben muss. Wann die Ablösung der Vorhaut und die Weitung der Vorhautöffnung abgeschlossen ist, ist bei jedem Jungen individuell verschieden. So wie jedes Mädchen in einem individuell unterschiedlichen Alter ihre erste Menstruation bekommt, wird jeder Junge in einem individuell unterschiedlichen Alter das erste Mal seine Vorhaut zurückziehen zu können. Da dabei die Hormone für die Veränderung der Zusammensetzung des Gewebes der Vorhaut eine entscheidende Rolle spielen, ist es nichts ungewöhnliches, wenn dieser Prozess erst nach Vollendung der Pubertät abgeschlossen ist. Wenn ein Jugendlicher erst mal eine zurückziehbare Vorhaut hat, kann er seine Vorhaut einfach unter der Dusche zurückziehen, mit Wasser abspülen und seine Vorhaut wieder nach vor über die Eichel schieben. Die meisten Männer machen dies natürlicherweise von selbst, während sie ganz normal ihre Genitalien beim Duschen waschen. Falls der Junge vor der Pubertät eine zurückziehbare Vorhaut bekommt, besteht keine Notwendigkeit für ihn sich unter seiner Vorhaut zu waschen, es sei denn, er möchte es. Falls ein Jungendlicher seine Vorhaut nicht zurückziehen kann, besteht immer noch kein Grund sich über die Reinigung unter der Vorhaut Sorgen zu machen. Vergessen sie nicht, dass es nichts abnormales ist, wenn es bis zum Abschluss der Pubertät dauert, ehe die Vorhaut vollständig zurückgezogen werden kann.

Echte Phimose:

Eine pathologische oder echte Phimose liegt vor, wenn ein post-pubertärer Mann unfähig ist, seine Vorhaut zurückzuziehen und er deshalb Schmerzen beim Geschlechtsverkehr hat. Circa 1 Prozent der Frauen und Männer haben Vorhaut, die niemals zurückziehbar werden wird. Dies kann eine normale Variation sein, solange die sexuale Aktivität nicht behindert ist. Wenn sie die sexuelle Aktivität jedoch behindert, sollte der Mann einen konservative Behandlung durchführen. 90% der Männer mit diesem seltenen Leiden können das Problem durch eine Behandlung mit steroidhaltiger Salben und behutsamen Dehnungsübungen korrigieren. Die Steroidsalbe ahmt die Wirkung der Pubertätshormone nach und sorgt dafür, dass die Haut elastischer wird. Der Mann wendet die Salbe gewöhnlich mehrmals täglich an und führt die manuellen Dehnungsübungen kurz nachdem er die Salbe aufgetragen hat oder während dem Duschen durch. Männer sollten sich vor jedem Arzt in Acht nehmen, der eine Beschneidung empfiehlt, ohne vorher eine konservative Behandlung versucht zu haben.

Verwirrte/unwissende Ärzte :

Also warum sind die Ärzte in unserem Land so verwirrt oder unwissend was die normale Entwicklung der Vorhaut anbelangt. Auf die Frage gibt es mehrere Antworten.

Erstens, wenn wir uns die Empfehlungen der AAP (American Academy of Pediatrics) genauer betrachten, so stellt die AAPfest, dass sie erst in den 1990ern letztendlich vor den Schäden des gewaltsamen Zurückziehens der Vorhaut warnte und die Entwicklung der Vorhaut des intakten Jungen beschrieb. Vor der Warnung der AAP, war der Glaube weit verbreitet, dass Eltern ihren intakten Söhne die Vorhaut zurückziehen müssten um darunter zu reinigen. Wie man sich vorstellen kann, führte das zu vielen Komplikationen bei intakten Jungen und zu eigentlich unnötigen Beschneidungen.

Zweitens, gab es eine vorläufige Studie* an 300 Jungen, in der das durchschnittliche Alter, ab dem Jungen eine zurückziehbare Vorhaut bekommen, bestimmt werden sollte. Diese Studie kam zu dem Schluss, dass die meisten Jungen im Alter von 3 Jahren eine zurückziehbare Vorhaut hätten. Diese veraltete Studie setzte den Zeitpunkt der Zurückziehbarkeit der Vorhaut vor der Einschlung in in den Köpfen der Ärzte fest. 

Eine nachfolgende Langzeitstudie** an mehreren tausend Jungs zeigte aber, dass im Alter von 10 Jahren nur 50% der Jungen eine zurückziehbare Vorhaut haben. Viele Ärzte, die die neuere Studie nicht kennen, praktizieren immer noch auf Grundlage dieser vorläufigen Studie.

Drittens, wird in den medizinischen Fakultäten nichts über die Entwicklung der Vorhaut unterrichtet. Es gibt keine Vorträge darüber, wie die Vorhaut aufgebaut ist, wie sie sich im Verlauf der Kindheit verändert und welche schützende und sensorischen Funktionen sie erfüllt. Im Grunde genommen ist das einzige, das Medizinstudenten zu diesem Thema lernen, wie man die Vorhaut amputiert. Einige Medizinstudenten erfahren vielleicht von dem Zustand der Phimose, jedoch wird ihnen nicht beigebracht, dass dies nur für erwachsene Männer gilt, und die Vorhäute von Kindern verengt sein können. Tatsächlich hat die Ärzteschaft in den USA so viele Vorhäute im Verlauf des letzten Jahrhunderts abgeschnitten, dass Ärzte –wenn überhaupt-– nur ganz selten einen intakten Jungen zu Gesicht bekamen und daher [auf diesem Gebiet] die Wissensgrundlage der Diagnose und Behandlung verloren haben. Heute handeln die Ärzte in einem Informationsvakuum, oder was noch schlimmer ist, unter dem Einfluss von Falschinformation. Während die Beschneidungsraten dramatisch gefallen sind, leiden intakte Jungs überall an den Folgen einer Ärzteschaft, die zu großen Teilen nichts über die Vorhaut weiß. Jedes Jahr werden tausende intakter Jungen im Alter von 2 Jahren und darüber hinaus unnötigerweise durch fehlinformierte Ärzte beschnitten. Die Aufklärung von Eltern, Ärzten und zukünftigen Ärzten ist ein unbedingt notwendiger Schritt hin zur Lösung dieses Problems.

Die genannte „vorläufige Studie“ ist jene des englischen Kinderarztes Douglass Gairdner aus den 1940ern, die dieser als Teil seines berühmten Papers "The Fate oft he Foreskin" Ende 1949 im British Medical Journal veröffentlichte. Auf Gairdners Studie beruht auch der in der deutschsprachigen medizinischen Literatur oft wiederholte Irrglaube, dass Jungen bis zum 3. Lebensjahr (oder spätestens bis zum Schulalter) ihre Vorhaut vollständig zurückziehen können müssten. Dieser Irrglaube wird auch als Gairdner-Fehler bezeichnet. Anm. d. Red.

** Besagte Studie ist Dr. Jakob Øster – damaliger Chefarzt der Kinderklinik des Zentralkrankenhaus in Randers Dänemark – "Further Fate of the Foreskin", deren Ergebnisse 1968 veröffentlicht wurden. Leider stellte Øster seine Ergebnisse in einer etwas unübersichtlichen Weise dar, die Spielraum für Missbrauch und Fehlinterpretation seiner Zahlen gab: Er unterteilte die Prozentalteile der Jungen mit einer nicht-zurückziehbaren Vorhaut in drei Kategorien ein: „Phimose“, die Osters als physiologisch beschrieb, „Vorhautverklebungen“ und „nicht zurückziehbare Vorhaut“. Pickt man sich eine dieser Kategorien heraus, meistens wird die Kategorie „physiologische Phimose“ ausgewählt, und ignoriert oder unterschlägt die anderen beiden großzügig, sinkt der Anteil der Jungen mit zurückziehbarer Vorhaut extrem ab. So kommt es regelmäßig vor, dass Østers Werte und jene von Douglass Gairdners miteinander verwurstet werden, so als ob Jakob Osters Studie Gairdners falsche Werte von 1949 ergänzen würde. Oder es wird behauptet, dass 8% der 6 Jährigen eine „behandlungsbedürftigte“ Phimose hätten. Tatsächlich haben laut Øster 8% der 6 Jährigen eine „Phimose“, die er als physiologisch beschrieb, weitere 1% eine „enge Vorhaut“ und ganze 63% eine „verklebte Vorhaut“, so dass insgesamt 73% der 6-jährigen Jungen eine natürliche, nicht-krankhafte, nicht-zurückziehbare Vorhaut haben. Anm. d. Red.

Wenn sie mehr Informationen über dieses Thema haben möchten können sie die folgenden Artikel lesen


Deutsche Übersetzung des auf www.drmomma.org veröffentlichten englischen Originalartikels "The Phony Phimosis Diagnosis"

Mit ausdrücklicher Erlaubnis von DrMomma.org