Rechtlich ist eine Beschneidung von nicht selbst einwilligungsfähigen Personen ohne medizinische Indikation, d.h. weder als anerkannt prophylaktische noch als therapeutische Maßnahme, eine Körperverletzung (§ 223 StGB), die allerdings nur auf Antrag verfolgt und bestraft wird. Sie wurde nicht gewertet als schwere Körperverletzung (§ 226 StGB), die aufgrund öffentlichen Interesses immer strafrechtlich verfolgt werden müsste (Landgericht Köln vom 7. Mai 2012).
Eine medizinisch nicht indizierte Beschneidung, und damit auch eine rituelle Beschneidung, verstößt in Deutschland somit gegen die Rechtsprechung und sinngemäß auch gegen internationale Deklarationen zum Kindeswohl. Jede Einwilligung der Eltern zu diesem Eingriff ist daher rechtlich mindestens anfechtbar.
Auch pädiatrische Fachgesellschaften haben sich ausdrücklich gegen medizinisch nicht indizierte Beschneidungen ausgesprochen (z.B. veröffentlichte das 'Fetus and Newborn Committee' der 'Canadian Paediatric Society' 1996 das Positionspapier "Neonatal circumcision revisted", in dem medizinisch nicht indizierte Beschneidungen ausdrücklich abgelehnt werden. Dies entspricht auch der Presseerklärung der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie vom 04.07.2012 zu dem Urteil des LG Köln vom 7.5.2012, und die Verlautbarung des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte vom 17.07.2012.
Die rituelle Beschneidung als Körperverletzung zu werten ist somit auch aus ärztlicher Sicht richtig. Sie verändert den Körper des Kindes irreversibel, ohne dass dafür eine medizinische Indikation vorliegt. Der Eingriff, soweit nicht kinderchirurgisch durchgeführt, ist robust und blutig. Er ist mit einer nicht zu vernachlässigenden Komplikationsrate von immerhin 6% belastet. Sofern dieser Eingriff nach mosaischem und nach klassischem muslimischem Ritus traditionell ohne Analgesie durchgeführt wird, ist diese Art der Beschneidung ein mit erheblichen Schmerzen verbundener Eingriff. Im Alter von 4 bis 7 Jahren beschnittene Muslime berichten von einer erheblichen und vor allem auch nachhaltig beeinträchtigenden Traumatisierung. Aber nicht nur ältere Kinder, sondern gerade auch Neugeborene sind schmerzempfindlich und können unterbewusst durch solche traumatisierenden Erfahrungen längere Zeit belastet werden. Dies ist belegt, und zwar gerade im Vergleich Beschnittener mit Unbeschnittenen. Die bis in die 70er Jahre mancherorts vertretene Meinung, Neugeborene hätten keine oder eine eingeschränkte Schmerzempfindung, hat sich als absolut unzutreffend und schädigend erwiesen. Schon kleinste Frühgeborene leiden nachweisbar unter ihnen zugefügten Schmerzen. Es ist inzwischen wissenschaftlich belegt, dass Neugeborene Schmerzen sogar erheblich stärker empfinden als ältere Kinder oder Erwachsene, da neuronale Mechanismen der Schmerzmodifikation noch nicht entwickelt sind.
Eine Beschneidung ohne wirksame Analgesie, gleichviel in welchem Alter, ist daher strikt abzulehnen.
Das sehen nach unseren Informationen inzwischen auch etliche Beschneider so. Ein Problem besteht darin, dass die in der Regel nicht-ärztlichen Beschneider weder Narkosen noch Lokalanästhesien mittels Injektion durchführen dürfen. Es bleiben dann nur anästhesierende Salben, die jedoch weniger wirksam sind. Lässt sich andererseits ein einwilligungsfähiger Jugendlicher oder Erwachsener beschneiden, so wird dies strafrechtlich nicht beanstandet werden, wenngleich bei fehlender medizinischer Indikation ein nicht unerhebliches haftungsrechtliches Risiko für den Ausführenden bestehen bleiben dürfte.
Das Kölner Urteil vom 7. Mai 2012, das die rituelle Beschneidung als Körperverletzung wertete, hat lebhafte und z. T. sehr emotionale Diskussionen ausgelöst. Ganz offensichtlich wurde hier ein Tabu verletzt. Angegriffen wurde nicht in erster Linie die juristische Argumentation. Vielmehr wurde das Urteil als unsensibel und als intolerant oder gar feindselig gegenüber den Glaubensrichtungen jüdischer und muslimischer Mitbürger bezeichnet. Dabei wurde übersehen, dass Gerichtsurteile nur nach Recht und Gesetz, nicht aber nach religiösen oder traditionellen Gefühlen und nach Glaubensaussagen gefällt werden können. Glaubensüberzeugungen sind zu achten, können jedoch nicht über geltendes Recht und über die Grundlagen unseres Rechtssystems gestellt werden. Religiöse Toleranz hat nicht den Sinn, rechtlich oder medizinisch nicht gerechtfertigte Handlungen für rechtmäßig zu erklären.
Es darf hier die Frage gestellt werden, ob nicht die wortführenden Vertreter jüdischen und muslimischen Glaubens darüber nachdenken könnten, ob ein Ritus, der auch von manchen zu ihrem Glauben stehenden Juden und Muslimen als archaisch empfunden wird, überdacht werden sollte. Im Islam ist die Beschneidung kein Gesetz, sondern eine wichtige, von vielen als bindend angesehene Tradition. Dass auch fromme Juden sich gegen die Beschneidung wenden und das o. g. Urteil des LG Köln befürworten, hat jüngst eine diese Entscheidung lebhaft begrüßende Demonstration vor der deutschen Botschaft in New York gezeigt. Auffallend ist, dass sich bislang so gut wie keine jüdischen und muslimischen Frauen zu Wort gemeldet haben, um für die Praxis der Beschneidung einzutreten. Aus persönlichen Erfahrungen wissen wir, wie jüdische Mütter unter der rituellen Beschneidung ihrer Söhne leiden.
Es wurde, hypothetisch und ohne empirischen Nachweis, eingewandt, dass nicht beschnittene Knaben in ihrer religiösen oder ethnischen Umgebung diskriminiert und damit in ihrem Kindeswohl beeinträchtigt würden, blieben sie unbeschnitten. Dem ist entgegen zu halten, dass Gruppendruck eine Körperverletzung nicht rechtfertigen kann. Vielmehr könnte man sich darum bemühen, einen auch vom Zentralrat der Juden argumentativ verwendeten Gruppendruck abzubauen und es damit Juden und Muslimen leichter zu machen, auch unbeschnitten gläubige Juden bzw. Muslime sein zu können, die sich im übrigen als Erwachsene immer noch beschneiden lassen könnten. Es hat schon immer Tabu-Brüche gegeben, die zur Normalität wurden, nachdem sich im Laufe der Zeit die Erregung gelegt hatte. Überstürzte Entscheidungen des Gesetzgebers sollten deshalb unterlassen werden.
Wir appellieren als Kinder- und Jugendärzte an unsere Politiker, eine Entscheidung zwar unter Berücksichtigung verletzlicher religiöser Überzeugungen aber dennoch in erster Linie unter dem Aspekt des Wohles unserer jüngsten und wehrlosesten Mitmenschen zu erarbeiten und dabei jeden eventuellen politischen Opportunismus zu vermeiden. Als Anwälte der Kinder plädieren wir Kinderund Jugendärzte dafür, im Sinn des Kindeswohls und des Gesundheitsschutzes von Neugeborenen und Kindern nach einer Verständigung zu suchen. Dies entspräche dem nicht nur für Ärzte maßgebenden, sondern ganz allgemein anerkannten ethischen Prinzip, nicht zu schaden („nil nocere“).
Berlin, Juli 2012
Kommission für ethische Fragen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin:
Prof. Dr. med. V. v. Loewenich (Kommissionssprecher, federführend), Dr. med. Ch. Fritzsch, Dr. med.
E. Fukala, Dr. med. Ch. Kupferschmid, Dr. med. A. Oberle, Prof. Dr. J. Ritter, Prof. Dr. jur. G. Wolfslast
Korrespondenzadresse:
Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V.
Prof. Dr. med. Manfred Gahr, Generalsekretär
Chausseestr. 128/129 ½ 10115 Berlin ½ Tel.:
Die Original-Veröffentlichung der Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin finden sie hier als PDF-Datei.