Professor Dr. Tonio Walter, Universität Regensburg, verfasste bereits vor Erlass des Legalisierungsgesetzes aufgrund des zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Gesetzesentwurfs eine kritische Abhandlung über das Vorgehen des Gesetzgebers, den Umgang mit der Debatte und das geplante Gesetzeswerk. Der Aufsatz erschien in Heft 22 der JZ (Juristenzeitung) 2012, Seiten 1110 ff. ("Der Gesetzesentwurf zur Beschneidung - Kritik und strafrechtliche Alternative").
Eine laienverständliche Zusammenfassung seiner Thesen veröffentlichte er zudem auf seiner Homepage, der Artikel ist hier www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/Jura/walter/daten/publikationen/NJW-aktuell_45-2012_Standpunkt.pdf abrufbar. Walter schlug damals einen Kompromiss vor, der mittlerweile durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Legalisierung von Genitalverstümmelungen kleiner Kinder männlichen Geschlechts (§ 1631 d BGB) obsolet geworden sein dürfte.
Interessant sind seine juristischen Ausführungen zum damals in Planung befindlichen § 1631 d BGB, die, wiewohl er für eine Zwischenlösung plädiert, welche die Beschneidung von Jungen vorübergehend straflos stellen soll, einen sehr scharfen Angriff auf die Gesetzesinitiative darstellt. Walter hält das Legalisierungsgesetz, wie auch Eschelbach und Isensee, für verfassungswidrig. Er stellt hierbei maßgeblich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz (Artikel 3 Abs.2 GG) ab.
Niemand kann behaupten, im Vorfeld der Entscheidung des Bundestags vom 12.12.2012 von diesen juristischen Würdigungen nichts gewusst zu haben. Vielmehr hat man sich generös darüber hinweggesetzt, in der Hoffnung, die Kontroverse schnell zu ersticken.
Zunächst einmal wundert sich Walter, wie so viele andere Juristen, darüber, dass in der Diskussion fortlaufend etwas von Religionsfreiheit angeführt wurde, die für die Frage der Einwilligung in die Beschneidung von Jungen durch die Eltern gar keine Rolle spielt. Außerdem befremdet ihn die grundsätzliche Unterscheidung von "Deutschen" einerseits und Angehörigen irgendwelchen Religionsgemeinschaften (Juden, Muslime) andererseits.
In der deutschen Diskussion hat mit weitem Abstand das religiöse Motiv die Hauptrolle gespielt und neben der Frage nach dem Elternrecht – was dürfen Eltern gegenüber Kindern? – zwei weitere Fragen aufgeworfen, die schärferen Zündstoff liefern: Was dürfen Deutsche gegenüber Juden? Und: Was dürfen Deutsche gegenüber Muslimen? Die Fragen sind so bewusst unsympathisch und wirklichkeitsverzerrend formuliert, denn natürlich sind auch die allermeisten in Deutschland lebenden Menschen jüdischen Glaubens Deutsche. Gleiches gilt für zahlreiche in Deutschland lebende Muslime, und es ist gerade unsere Aufgabe, die Gegensätze Deutsche/Juden und Deutsche/Muslime aufzulösen im Sinne einer kulturell und religiös durchlässigen Gesellschaft.
Dem ist nachdrücklich beizupflichten. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist nicht an einer Religion oder sonstigen Zugehörigkeit zu einer Gruppierung festzumachen. Diese Unterscheidung ist im Grunde der Jargon des Nationalsozialismus und beinhaltet ein ausgrenzendes Element. In Wahrheit kritisieren hier deutsche Staatsbürger/innen bestimmte Verhaltensweisen ihrer Mitbürger/innen, von denen viele, wenn nicht die meisten, ebenfalls deutsche Staatsbürger/innen sind. Und genau deshalb, wegen dieser Gleichheit als Menschen und vor dem Gesetz, wegen der Unteilbarkeit der Menschenrechte, kann und darf es nicht darauf ankommen, welchen anderweitigen Hintergrund derjenige besitzt, der eine unrechte Tat begeht.
Von diesem Standpunkt her ist es mehr als voreingenommen, wenn man das Unwerturteil dieses Eingriffs im Genitalbereich eines Kindes an irgendetwas anderem festmachen will als an den objektiven Tatsachen selbst. Daher ist auch die Unterscheidung nach Geschlecht reinster Sexismus, was auch aus den Ausführungen Walters hervorgeht:
Denn diskutiert wird ausschließlich darüber, inwieweit ein Schneiden am Genital eines kleinen Jungen erlaubt sein könne, während Einigkeit darüber herrscht, dass ein Schneiden am Genital kleiner Mädchen – egal wo und wie – stets ein Verbrechen ist.
In diesem Zusammenhang ruft auch Walter zu Recht in Erinnerung, dass es verfehlt ist, bei der Genitalverstümmelung von Mädchen nur die brutalstmöglichen Umstände zu benennen, während die Genitalverstümmelung von Jungen krampfhaft in ein blumiges, harmloses Licht gestellt wird. Vielmehr müssen hier die einzelnen Abstufungen weiblicher Genitalverstümmelung betrachtet werden, um die sachliche Vergleichbarkeit deutlich zu machen:
Was Frauen und Mädchen betrifft, ruft das Wort „Beschneidung“ das Bild eines schreienden Mädchens auf den Plan, dem in der afrikanischen Wüste mit einer Glasscherbe die Klitoris durchgeschnitten wird. (…) Es gibt aber auch einen Eingriff, der anatomisch der Beschneidung beim Mann und Jungen entspricht, das ist die sogenannte Klitorisvorhautreduktion: die Klitoris (Glans clitoris) hat wie die Eichel (Glans Penis) eine Vorhaut, und diese Vorhaut hat auch die gleiche Funktion wie beim Mann, und zwar die hochempfindliche Eichel/Vorhaut zu schützen. Für die Beschneidung (Reduktion) der weiblichen Vorhaut gilt wie für die Beschneidung beim Mann, dass die Haut ganz oder nur zu einem Teil entfernt werden kann. (…) Die mildeste Form ist das schlichte und einmalige Einkerben der Vorhaut.
Dass diese brutalstmögliche Ausprägung von Sexismus ausgerechnet die Grundlage eines Gesetzes bildet, das Genitalverstümmelung an den schwächsten, wehrlosesten Mitgliedern der Gesellschaft erlaubt, ist wohl der tiefste Eingriff in die im GG verankerten Menschenrechte und Grundsätze, der überhaupt vorstellbar ist. So führt Walter zu Recht aus:
Mit der geplanten Neuregelung entzieht der Staat also besonders schwachen und wehrlosen Menschen in einem hochsensiblen Bereich den Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit – aufgrund ihres Geschlechts. Das ist etwas Neues, und man fragt sich, wie sich dies mit Art.3 Abs.2 S.1 GG verträgt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Der Entwurf scheint schulterzuckend hinzufügen zu wollen: „Jungen und Mädchen aber nicht“. Das ist jedoch weder der Buchstabe noch der Geist unserer Verfassung.
Es fragt sich unter solchen Umständen, welche Auffassung die Mehrheit der Politiker, welche das Legalisierungsgesetz verabschiedet hatten, von Menschenrechten überhaupt haben und wie sie zu den Grundsätzen steht, die im Grundgesetz verankert worden sind. Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz, körperliche Unversehrtheit, Schutzpflicht des Staates Minderjährigen gegenüber? Geschenkt.
Stattdessen wurde die Bevölkerung mit der Behauptung einer angeblichen Verletzung der Religionsfreiheit regelrecht zum Narren gehalten. Walter stellt hier, wie viele andere Juristen auch, nochmals ganz klar, dass die Körperverletzung von Kindern nicht mit religiösen Motiven gerechtfertigt werden kann:
Solches kollidierendes Verfassungsrecht ist in der Diskussion um die Beschneidung auch immer wieder in den Vordergrund geschoben worden: das Elternrecht aus Art.6 Abs.2 GG in Verbindung mit der Religionsfreiheit der Eltern aus Art.4, die für die entscheidende Frage Berücksichtigung finden kann, wie weit das Elternrecht reiche (während es nicht möglich ist, die Religionsfreiheit der Eltern unmittelbar gegen die körperliche Unversehrtheit des Kindes in Stellung zu bringen: die Religionsfreiheit berechtigt nie zu Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit Dritter).
Es bleibt, wie immer, nur das Erziehungsrecht der Eltern als einziges im Grundgesetz aufgeführtes Verfassungsrecht, was in der Diskussion überhaupt für die Position der Eltern herhalten könnte. Dieses jedoch ist reines Mandat zum Wohle des Kindes und kein Freifahrschein dafür, die Grundrechte des Kindes nach Belieben verletzen zu dürfen. Und auch in dieser Frage kann es nicht angehen, Sachverhalte ausschließlich aufgrund des Geschlechts des Kindes unterschiedlich zu werten und das Erziehungsrecht der Eltern dort begrenzt zu sehen, wo die Genitalverstümmelung Mädchen betrifft, nicht aber dort, wo sie Jungen betrifft. Wer solche Unterscheidungen vornimmt, kann auch gleich damit anfangen, Körperverletzungen für gerechtfertigt zu halten, wo sie Menschen mit schwarzer Hautfarbe betreffen, nicht aber dort, wo sie Menschen mit weißer Hautfarbe betreffen. Daher führt Walter richtig aus:
Dass aber allein ein Hinweis auf das Elternrecht genüge, um die körperliche Integrität der Jungen eine Stufe unter die körperliche Integrität der Mädchen zu stellen, bestreite ich. Dies gilt umso mehr, als der Gesetzesentwurf eine direkte Ungleichbehandlung vorsieht, der die Erlaubnis zur Körperverletzung also ausdrücklich an das Geschlecht des Kindes knüpft (…).
Die Bundesregierung hatte in ihrer Begründung mehr oder weniger durchschaubar versucht, den klar sexistischen Ansatz durch eine bestimmte Wortwahl zu verschleiern, was Walter zutreffend darlegt:
Die Begründung des Entwurfs kaschiert das, indem sie streng jene drei rhetorischen Regeln befolgt, die für die Beschneidung von Mädchen und Frauen gelten, erstens: Sie hat man in allen Formen „Genitalverstümmelung“ zu nennen, nie „Beschneidung“; für Jungen gilt das Umgekehrte. Zweitens: Für die Beschneidungen von Mädchen und Frauen ist es unzulässig, nach ihren Formen oder Motiven zu unterscheiden; das Einkerben, ja Einritzen der weiblichen Vorhaut gilt genauso viel wie das Abschneiden von Schamlippen und Klitoris. Es handelt sich stets um Verbrechen und daher stets – dritte Regel – um etwas grundlegend anderes, als es Beschneidungen von Jungen je sein könnten.
Den Begriff "Kindeswohl" sieht Walter missbraucht. Er legt ausführlich dar, weshalb Genitalverstümmelung nichts mit Kindeswohl zu tun haben kann, zumal solcherlei absurde Argumente im Falle von weiblicher Genitalverstümmelung undenkbar wären. Wie schon Fischer dividiert er daher die einzelnen Interessen der Beteiligten auseinander und entlarvt das "Kindeswohl"-Interesse als einseitigen Willen der Eltern, der mit dem Kind selbst gar nichts zu tun hat. Richtigerweise legt er dar:
(…) dass aus dem Blickwinkel allein des Kindes und nach dem heutigen Stand medizinischer Erkenntnis – in Deutschland – eine Beschneidung ohne medizinische Indikation nie im Interesse des Kindeswohls liegt, weil sie zwar eine Reihe von gesundheitlichen Nachteilen und Gefahren mit sich bringt, mindestens zu einer Desensibilisierung führt, doch ohne dass sich ein prophylaktischer Nutzen belegen ließe. Auch ein hygienischer Gewinn ist zumindest so lange nicht zu verzeichnen, wie Wasser und Seife zur Verfügung stehen.
Wenn die Eltern die Beschneidung unbedingt wollen, aus welchen Gründen auch immer, so mag sie deren Wohl dienen. Aber das ist nicht das Wohl des Kindes. Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass im Familienrecht für § 1666 BGB die Motive der Eltern grundsätzlich keine Rechtfertigung sein können, wenn eine Maßnahme oder ein Zustand das Kindeswohl gefährdet.
Auch hadert Walter mit der gesetzlichen Einschränkung "Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird." (§ 1631 d Abs.1 S.2) Denn was soll das eigentlich sein? Wie soll man das definieren? Wenn es etwa in der Gesetzesbegründung heißt, Beschneidung zur Verhinderung der Masturbation zähle nicht zu den Motiven, die dem Kindeswohl entsprächen, so stellt sich die Frage, welche anderen Motive denn dann dem Kindeswohl dienlich seien und warum. Hier wird auf eine Gesinnung der beschneidenden Eltern abgestellt, die subjektiv mal als besser und mal als schlechter gewertet wird, was im Einzelnen im Auge des Betrachters liegen dürfte. Unter den Begriff "Kindeswohl" lassen sich derartige Motive der Beschneidenden nicht fassen. Dies legt Walter schlüssig dar:
Man braucht sich nur die Beispiele anzusehen, die schon in der Entwurfsbegründung stehen, um ins Kopfschütteln zu kommen: Ein ästhetisches Motiv, heißt es dort, sei dem Kindeswohl (wahrscheinlich) abträglich, also schlecht, ein „kultureller Ritus“ hingegen sei in Ordnung. Gilt das auch für afrikanische Initiationsriten? Was, wenn Ursache des „kulturellen Ritus“ gerade das ästhetische Empfinden seiner Anhänger ist? (…) Es führt leider auch an dieser Stelle leider kein Weg daran vorbei, dass es vom Standpunkt eines aufgeklärten und sachkundigen Dritten aus – und abgesehen von einer medizinischen Indikation – überhaupt kein vernünftiges Motiv für die Beschneidung der Jungen gibt.
Auch die sog. "Mohelklausel" greift Walter an, wobei er die größte Schwäche darin sieht, dass auch der Mohel nach den Regeln der ärztlichen Kunst handeln müsse, wie es Absatz 1 der Vorschrift vorsieht:
Scheitern muss das Gesetz aber an Absatz 1 der geplanten Norm. Denn er verlangt, dass nach den Regeln der ärztlichen Kunst operiert werde. Sie wiederum setzen eine wirkungsvolle Betäubung (Narkose) voraus. Das erkennt die Begründung des Gesetzesentwurfes auch. Was sie nicht erkennt: Wirkungsvoll unterbunden werden könne der Schmerz bei der Beschneidung und der folgende Wundschmerz nur durch eine Allgemeinanästhesie (Vollnarkose) ergänzt durch Leitungsanästhesie, das heißt durch eine zusätzliche lokale Betäubung per Injektion. Das hat indes zwei Haken: Einmal darf beide Verfahren – Vollnarkose und Leitungsanästhesie – nur ein Arzt anwenden (…). (…) Der zweite Haken: Orthodoxe Juden lehnen jedwede Betäubung ab (abgesehen von „einem Tropfen süßen Weins“).
Legt man die Ausführungen Walters der Auslegung der Norm zugrunde, zeigt sich erst Recht die Brisanz des sog. "Teichtal-Falles" (Anzeige gegen Rabbi Teichtal wegen der Durchführung einer Metzitzah b'Peh Beschneidung ). Denn wenn die Regeln der ärztlichen Kunst bereits daran scheitern, dass dem Baby nicht ohne ausreichende Betäubung ein Stück Haut von Penis abgeschält werden darf, was zu nachweislichen Schmerztraumata führt, dann kann es auch nicht der ärztlichen Kunst entsprechen, wenn ein erwachsener Mann die Wunde des Säuglings mit dem Mund absaugt. Im Einzelnen wird es spannend sein zu sehen, wie die Rechtslehre diese Widersprüchlichkeiten im Einzelnen werten und auslegen wird.
Sehr schön legt Walter dann die Absurdität dar, mit der sich die politische Klasse ausmalte, die Debatte über Beschneidung in der Bevölkerung dadurch abwürgen zu können, dass sie ein Gesetz verabschiedete, das auf falschen Tatsachenbehauptungen und nicht nachvollziehbaren Wertvorstellungen beruhte. Auch der Großteil der Presse dürfte sich verkalkuliert haben, als sie auf Demagogie setzte. Die teilweise unglaubliche persönliche Herabwürdigung der Richter des Kölner Urteils sowie einzelner Juristen wie etwa Prof. Holm Putzke wurde von der Öffentlichkeit nicht gekauft.
Wie selbstverständlich hatte man außerdem damit gerechnet, dass auch der allergrößte Teil der nichtjüdischen und nichtmuslimischen Bevölkerung die Dinge so sehen werde und lediglich einige problem- und realitätsvergessene Juristen auf abwegige Gedanken gekommen waren, die Knabenbeschneidung in Frage zu stellen. Doch siehe: keineswegs ist die Bevölkerung überwiegend dieser Ansicht, im Gegenteil. Selbst unter dem Kanonendonner sofort abgefeuerter propagandistischer Breitseiten zugunsten religiös motivierter Beschneidungen haben sich in Umfragen mehr Bürger für deren Verbot ausgesprochen als für deren Legalisierung.
Hieraus läßt sich vor allen Dingen ableiten, dass, in einer informierten und aufgeklärten Gesellschaft, Manipulation und Demagogie nicht immer die wirksamsten Mittel sind, um die öffentliche Meinung zu gewinnen. Die Debatte wird weitergehen, und schon jetzt lässt sich verzeichnen, dass das Bewusstsein für das Unrecht der Genitalverstümmelung von Jungen gewachsen ist und weiter wachsen wird.